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Verstand haben oder nicht haben

Verstand ist eine feine Sache und fast jeder Mensch mit Sendungsbewusstsein meint ihn zu haben. Aber ist es mit ihm wirklich so einfach? Haben wir alle Verstand? Oder sind wir überhaupt noch bei Verstand? Schauen wir erst einmal, wie er definiert wird. Verstand wird als eine ausschließlich menschliche Fähigkeit begriffen. Da beginnt insofern schon das Problem, dass der Mensch ja selbst diese Zuweisung vorgenommen hat. Schon seit der Antike haben sich Philosophen mit dem menschlichen Verstand auseinandergesetzt und diesen immer eng an den Begriff der Vernunft geknüpft.

Das Lexikon definiert Verstand als die menschliche Fähigkeit, analytisch zu denken, Dinge richtig zu erkennen und zu beurteilen. Auch da tun sich schon wieder Fragen auf. So meinen zwar die meisten von uns, die Welt und ihre Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen, aber warum sind die Sichtweisen und Beurteilungen der Menschen dann so verschieden? Unternehmen wir also einen kleinen Exkurs in die Philosophie.

Der Verstand in der Geschichte

Aristoteles meinte im vierten vorchristlichen Jahrhundert, Verstand sei das Vermögen des begrifflichen und folgernden Denkens. Er untersuchte die Position des Einzelnen in der Gemeinschaft und hielt ganz wie sein Lehrer Platon am Begriff des Diskurses fest. Im frühen Mittelalter des 4. und 5. Jahrhunderts nach Christus war Augustinus der einflussreichste Denker und Rhetoriker und ein Mann der Kirche, für den nur Gott die absolute Wahrheit bedeutete. Deshalb unterschied er eine „ratio inferior“, die sich allem Endlichen widmet, und eine „ratio superior“, die das Ewige zu erfassen sucht.

Letzteres konnte natürlich nur an Religion und Spiritualität geknüpft sein und so war die „ratio superior“ etwas für Auserwählte. In der neuzeitlichen Philosophie war es schließlich Immanuel Kant (1724 – 1804), der sich des menschlichen Verstandes annahm. Für ihn war der Verstand das Vermögen der Begriffsbildung. Dieser ist jedoch der Vernunft als Vermögen der Ideenbildung untergeordnet.

Verstand kann gelenkt werden

Das ist zugegeben alles recht abstrakt oder besser gesagt, nur schwer zu verstehen. Vielleicht bringt uns das Verstehen oder die Vernunft etwas weiter. „Bist Du noch ganz bei Verstand!“ wird jemandem an den Kopf geworfen, der sich aus der Sicht des Gegenübers irrational oder „unvernünftig“ verhält. Die Vernunft wird oft als Argument ins Spiel gebracht. Eltern appellieren an die Vernunft ihrer Kinder, wenn sie sich nicht an Regeln halten.

Politiker appellieren an die Vernunft ihrer Bürger, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht. So etwa, wenn der Verstand dem Einzelnen sagt, dass sein Geld entwertet wird oder er Dinge anhäufen muss, weil es bald nichts mehr gibt. Wenn der Verstand bei vielen Menschen ein Gefühl der Bedrohung erzeugt, wird aus dem Verstehen Einzelner das Verstehen Vieler. Es kommt womöglich zu Anarchie und Chaos. Die öffentliche Ordnung bricht zusammen. Deshalb wird der Verstand eben auch gelenkt. Kollektive Wahrnehmungen werden durch Politik und Propaganda befördert. Das kann gut sein, aber auch schlecht, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat.

Lernprozess geht dem Verstehen voraus

Doch zurück zum Verstehen. Allgemein glaubt man etwas zu verstehen oder auch nicht. Dabei denken wir vielleicht an Schulstoff. Verstehen ist das Erfassen von Zusammenhängen, von Gedanken, Dingen und Konstrukten, aber auch das Verstehen anderer Mitmenschen, ihrer Motivationen und Gefühle. Um zu verstehen, müssen wir Wirkmechanismen, eine Sprache oder den Symbolgehalt von Dingen kennen. Das heißt dem Verstehen geht ein bewusster oder unbewusster Lernprozess voraus. Verstehen ist also mehr etwas Erlerntes als etwas Angeborenes.

Beim Verstand hingegen schwingt jenseits aller Philosophie etwas Angeborenes mit, etwas wie Intelligenz. Trotzdem ist anzunehmen, dass durch das Verstehen lernen, auch der Verstand geschult werden kann. Dass er also eine Mischung aus Verstehen und Instinkt ist. „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“, hört man des öfteren, gerade von älteren Menschen. Auch ich verstehe sie manchmal nicht mehr. Ich habe zwar gelernt, Zusammenhänge, Sprachen, Gefühle zu verstehen, ich habe im Laufe der Jahre Empathie entwickelt, aber nun überfordert mich eine bestimmte Entwicklung und mein Verstand bescheinigt mir ein nicht-Verstehen trotz jahrelangen Trainings.

Handle so, wie du selbst behandeln werden willst

Fakt ist, dass es überall, wo Menschen zusammenleben, Regeln geben muss. Diese Regeln werden immer komplexer, weil es heute viel mehr Menschen gibt als etwa in der Antike oder im Mittelalter. Das liegt augenscheinlich an einer positiven Entwicklung. Die Menschen heute, zumindest in der sogenannten westlichen Welt, ernähren sich besser, haben bessere Gesundheitssysteme, weniger Säuglinge sterben und die Menschen werden älter. Der Verstand sagt mir aber auch, dass das alles seinen Preis hat, dass es uns heute auf Kosten anderer besser geht, die wiederum teilhaben wollen an unserem Leben. Gerade leben wir mitten in der Zeit einer Völkerwanderung.

Das ist die Folge langer und ungerechter Entwicklungen. An der Stelle soll noch einmal Immanuel Kant ins Spiel kommen. Er prägte einen bis heute wichtigen Begriff, den wir uns täglich mehr denn je ins Gedächtnis rufen sollten: den Kategorischen Imperativ. Dieser bedeutet stark vereinfacht: Handle immer so, dass Dein Wollen eine allgemeine Gesetzesgrundlage sein könnte. Oder: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst. Und wenn jeder Einzelne nur so viel Verstand besitzt, sich täglich daran zu halten, ist die Welt vielleicht noch zu retten.

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